75 Prozent weniger Insekten : „Wir befinden uns mitten in einem Albtraum“

Monokulturen und der Einsatz von Agrarchemikalien stehen im Verdacht als Auslöser des Insektenschwunds. Bild: dpa

Das Insektensterben lässt sich nicht mehr abstreiten. Der oft kritisierte Krefelder Entomologen-Verein hat jetzt in einer Langzeitstudie gezeigt: Die Populationen sind seit der Wende um drei Viertel geschrumpft. Welchen Anteil hat die Landwirtschaft, welchen das Klima?

 

Das Insektensterben in Deutschland ist ganz offensichtlich nicht die Erfindung einzelner Insektenliebhaber oder Entomologen-Vereine, wie das nach einer Anhörung im Bundestag vor anderthalb Jahren und in einigen Medienberichten behauptet worden war. Jetzt kommt eine von Caspar Hallmann von der Radboud-Universität in Nijmwegen geleitete und mit der Unterstützung von ehrenamtlichen Insektenkundlern des Entomologenverieins Krefeld  vorgenommene Studie in der Online-Zeitschrift „PlosOne“ zu dem Schluss: Die drastischen Bestandseinbrüchen sind real, sie lassen sich über 27 Jahre mit Standard-Flugfallen für geflügelte Insekten klar nachweisen. 

Joachim Müller-Jung

Redakteur im Feuilleton, zuständig für das Ressort „Natur und Wissenschaft“.

Bei der Erhebungen in 63 deutschen Schutzgebieten zwischen 1989 und 2016 ist ein Rückgang von 76 Prozent (im Hochsommer bis zu 82 Prozent) der Fluginsekten-Biomasse festgestellt worden. Die Verluste betreffen offenbar die meisten Arten, von Schmetterlingen, Bienen und Wespen bis zu Motten und anderen flugfähigen Arten, die praktisch ausnahmslos als Bestäuber von Wild- und Nutzpflanzen oder zumindest als  Beutetiere für Vögel wichtig sind. Etwa 80 Prozent der Wildpflanzen sind abhängig von Insektenbestäubung, und 60 Prozent der Vögel in der heimischen Natur ernährt sich hauptsächlich von Insekten.

Das Insektensterben ist auch nicht etwa ein deutsches Phänomen: Seriöse Studien an Bienenpopulationen haben schon früher deutliche Einbrüche in anderen Ländern dokumentiert, und die Graslandschaften in Europa erlebten einen Rückgang der Schmetterlingszahlen um die Hälfte zwischen 1990 und 2011.

Was genau die Ursache des flächendeckenden Insektensterbens ist, bleibt allerdings

nach der ersten Langzeitstudie dieser Art unklar. Die Rückgänge waren
allein mit Lebensraumzerstörung, Klimawandel oder Landnutzungsänderungen
– und damit auch die Verarmung der Agrarlandschaften – jedenfalls mit
den zur Verfügung stehenden Daten nicht zu erklären. Für Josef Settele
von der Biozönosenforschung am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung
(UFZ) in Halle einer der wenigen Schwachpunkte des Langzeit-Monitorings:
„Die Autoren konnten nicht alle klimatisch relevanten Faktoren
einschließen. Nach ihrer eigenen Aussage sind noch weitere Analysen
nötig. Daher kann das Klima als wichtiger Faktor nicht ausgeschlossen
werden. Die vereinfachte Darstellung, dass Wetterveränderungen oder
Änderungen der Landnutzung den Gesamt-Rückgang nicht erklären können,
ist zumindest irreführend.“

Settele hält es für „grundsätzlich schwierig, Phänomene des globalen Wandels nach ihren
Ursachen aufzuschlüsseln. Zum Beispiel können klimatische Effekte auf
der Landschaftsebene, wie höhere Temperaturen, in Kombination mit
erhöhtem Stickstoffeintrag zu dichterer Vegetation und dadurch kühlerem
Mikroklima führen, was Effekte kaschieren kann“. Die Aufschlüsselung der
Arten, die mit der Auswertung der Flugfallen bis nicht üblich war, ist
für den Tierökologen aus Halle ein Ansatz, um künftig klarere Ergebnisse
auch im Hinblick auf die Aussterbe-Ursachen jenseits der Schutzgebiete
zu erhalten. Settele: „Hier stößt das Ehrenamt an seine Grenzen.
Überhaupt ist es enorm, was die Autoren bislang geleistet haben. Es ist
dringend nötig, derartige Monitorings entsprechend systematisch
aufzubauen – als öffentliche Aufgabe mit öffentlichen Geldern!“ Auch 
Naturschutzexpertin Alexandra-Maria Klein von der Universität Freiburg
erinnert an die Lücken, die noch zu schließen sind: „Ob die Abnahme in
anderen Ökosystemen, wie zum Beispiel in Agrar- oder Forstsystemen,
ähnlich aussieht, kann anhand dieser Studie nicht gesagt werden. Es
könnte sein, dass in anthropogen genutzten Ökosystemen große
Schädlingspopulationen die Gesamtbiomasse hochhalten.“

Für Teja Tscharntke, Agrarökologe an der Georg-August-Universität
Göttingen „hinterlassen die Auswertung und die Resultate einen soliden,
überzeugenden Eindruck.“ Der dramatische Insekten-Rückgang zeige, „dass
Schutzgebiete in nur noch sehr geringem Maße als Quellhabitate für die
Besiedlung der Agrarlandschaften dienen können.“

Der Zoologe Johannes Steidle von der Universität Hohenheim wird noch deutlicher:
„Die Ergebnisse der Untersuchung sind schockierend. Die kleine Hoffnung,
dass die vorab bekannt gewordenen, beunruhigenden Informationen in der
Publikation möglicherweise relativiert werden – zum Beispiel, weil sich
die Arbeit als fehlerhaft erweist – ist zerstört! Die Arbeit ist
methodisch sauber und zeigt flächendeckend für eine große geografische
Region Mitteleuropas einen massiven Biomasserückgang für Insekten. Wir
befinden uns mitten in einem Albtraum, da Insekten eine zentrale Rolle
für das Funktionieren unserer Ökosysteme spielen.“

 

 

Was genau die Ursache des flächendeckenden Insektensterbens ist, bleibt allerdings nach der ersten Langzeitstudie dieser Art unklar. Die Rückgänge waren allein mit Lebensraumzerstörung, Klimawandel oder Landnutzungsänderungen – und damit auch die Verarmung der Agrarlandschaften – jedenfalls mit den zur Verfügung stehenden Daten nicht zu erklären. Für Josef Settele von der Biozönosenforschung am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Halle einer der wenigen Schwachpunkte des Langzeit-Monitorings: „Die Autoren konnten nicht alle klimatisch relevanten Faktoren einschließen. Nach ihrer eigenen Aussage sind noch weitere Analysen nötig. Daher kann das Klima als wichtiger Faktor nicht ausgeschlossen werden. Die vereinfachte Darstellung, dass Wetterveränderungen oder Änderungen der Landnutzung den Gesamt-Rückgang nicht erklären können, ist zumindest irreführend.“

Honigbienen werden nicht nur als Bestäuber gebraucht.
Honigbienen werden nicht nur als Bestäuber gebraucht. : Bild: © Picstudio _ Dreamstime.com

Settele hält es für „grundsätzlich schwierig, Phänomene des globalen Wandels nach ihren Ursachen aufzuschlüsseln. Zum Beispiel können klimatische Effekte auf der Landschaftsebene, wie höhere Temperaturen, in Kombination mit erhöhtem Stickstoffeintrag zu dichterer Vegetation und dadurch kühlerem Mikroklima führen, was Effekte kaschieren kann“. Die Aufschlüsselung der Arten, die mit der Auswertung der Flugfallen bis nicht üblich war, ist für den Tierökologen aus Halle ein Ansatz, um künftig klarere Ergebnisse auch im Hinblick auf die Aussterbe-Ursachen jenseits der Schutzgebiete zu erhalten. Settele: „Hier stößt das Ehrenamt an seine Grenzen. Überhaupt ist es enorm, was die Autoren bislang geleistet haben. Es ist dringend nötig, derartige Monitorings entsprechend systematisch aufzubauen – als öffentliche Aufgabe mit öffentlichen Geldern!“ Auch  Naturschutzexpertin Alexandra-Maria Klein von der Universität Freiburg erinnert an die Lücken, die noch zu schließen sind: „Ob die Abnahme in anderen Ökosystemen, wie zum Beispiel in Agrar- oder Forstsystemen, ähnlich aussieht, kann anhand dieser Studie nicht gesagt werden. Es könnte sein, dass in anthropogen genutzten Ökosystemen große Schädlingspopulationen die Gesamtbiomasse hochhalten.“

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Rückgang von 75 Prozent : Großes Insektensterben

Der Zoologe Johannes Steidle von der Universität Hohenheim wird noch deutlicher: „Die Ergebnisse der Untersuchung sind schockierend. Die kleine Hoffnung, dass die vorab bekannt gewordenen, beunruhigenden Informationen in der Publikation möglicherweise relativiert werden – zum Beispiel, weil sich die Arbeit als fehlerhaft erweist – ist zerstört! Die Arbeit ist methodisch sauber und zeigt flächendeckend für eine große geografische Region Mitteleuropas einen massiven Biomasserückgang für Insekten. Wir befinden uns mitten in einem Albtraum, da Insekten eine zentrale Rolle für das Funktionieren unserer Ökosysteme spielen.“

Das mittlere Gewicht der pro Tag gefangenen Insekten hat seit 1989 um mehr als 75 Prozent abgenommen.
Das mittlere Gewicht der pro Tag gefangenen Insekten hat seit 1989 um mehr als 75 Prozent abgenommen. : Bild: Radboud University

Quelle: F.A.Z.

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